inform_Nr4_September2013 - page 14

14
physio
austria
inform
September 2013
Themenschwerpunkt
Neurorehabilitation
Krafttraining bei
Multipler Sklerose
Die Balance zwischen unter- und überfordernden Intensitäten
Multiple Sklerose ist eine entzündliche Autoimmunerkrankung
mit fortschreitendem Verlauf, die in Österreich derzeit ca.12.500
Menschen betrifft. Die Krankheit ist bisher nicht heilbar, allerdings
haben regelmäßiger Sport und Bewegung einen positiven Einfluss
auf die vielfältigen, individuell stark variierenden Symptome.
Menschen mit Multipler Sklerose ermüden
körperlich stärker oder früher, als sie es
zuvor gewohnt waren. Abhängig von ihrer
Bewältigungsstrategie versuchen sie ent-
weder, ihre gewohnten Aktivitäten fortzu-
führen, oder ihre Tätigkeiten zu reduzieren,
um das Eintreten der Ermüdung zu vermei-
den. Es handelt sich um einen Balanceakt,
denn sowohl durch Übertraining als auch
durch reduzierte Beanspruchung verliert der
Körper an Leistungsfähigkeit. Ermüdung und
Muskelschwäche nehmen zu und erschwe-
ren wiederum zunehmend körperliche
Aktivitäten.
Diese Negativspirale der Dekonditionierung
gilt es zu stoppen. Vor dem Hintergrund,
dass bis vor nicht allzu langer Zeit Empfeh-
lungen über die Vermeidung von körper-
lichen Belastungen bis hin zu Liegekuren
ausgesprochen wurden, ist der aktuell statt-
findende Paradigmenwechsel erfreulich.
Die bereits seit vielen Jahren wissenschaft-
lich fundierte Befürwortung von kontinuier-
lichem körperlichem Training bis hin zu
hoch-intensivem Krafttraining findet in der
Praxis zunehmend Anwendung.
Es existiert bis heute die Theorie, dass
körperliche Aktivität einen Schub auslösen
könne. Laut Definition liegt ein Schub dann
vor, wenn ein Symptom mindestens 24h
lang auftritt, ohne dass es durch außen-
stehende Faktoren erklärt werden kann
(z.B. Erhöhung der Körpertemperatur durch
Sport, Fieber oder Sauna). Klar abzugrenzen
von einem Schub ist das detailliert be-
schriebene Uthoff-Phänomen, bei welchem
ein Anstieg der Körpertemperatur zu einer
vorübergehenden Symptomatik führt, die
sich innerhalb weniger Stunden vollständig
reversibel zurückbildet. Erschöpfung oder
Muskelschwäche nach einem Training, die
länger als einen Tag andauern, deuten auf
ein zu intensives Training hin, entsprechen
aber nicht der Definition eines Schubes.
Basierend auf den Empfehlungen zu regel-
mäßigem Training, bemühen sich nun
manche Betroffene, ihre Symptome durch
möglichst viel Training aufzuhalten bzw.
zu reduzieren. Hier sind die Prinzipien der
Trainingslehre zu beachten. Für einen Erfolg
ist maßgeblich, das optimale Maß zwischen
Belastung und Erholung zu finden. Über-
forderung entsteht, wenn Pausen zu spät
oder zu kurz gesetzt werden, und wenn das
Training zu intensiv ist oder zu lange dauert.
Hingegen erreichen die Betroffenen bei zu
langen Pausen oder zu niedriger Trainings-
intensität keine Leistungssteigerung. In bei-
den Fällen sinkt ihre Motivation, das Training
fortzuführen.
Ziel der physiotherapeutischen Begleitung
von Menschen mit Multipler Sklerose ist
daher, die körperliche Leistungsfähigkeit mit
Trainingsreizen zu steigern, die sich an der
Symptomatik und Belastbarkeit der Betroffe-
nen orientieren. Gezielte Pausen richten sich
nach der individuellen muskulären Ermüdung
und der subjektiv wahrgenommenen Er-
schöpfung.
Krafttraining bei Multipler Sklerose
Um die Mobilität von Personen mit Multipler
Sklerose zu erhalten bzw. zu steigern, ist das
Training von Muskelkraft und -ausdauer ein
Kernelement der physiotherapeutischen Be-
gleitung. In der zielorientierten Befunderhe-
bung werden Muskelschwächen und daraus
resultierende Kompensationen erfasst. An
der limitierten Aktivität orientiert sich die
Wahl der Trainingsform und der Methodik.
Für das Erlernen muskulärer Ansteuerung
oder Ausdauertraining werden andere Trai-
ningsparameter gewählt als für Krafttraining.
Nach Abklärung der Kontraindikationen und
unter Berücksichtigung der persönlichen
Ressourcen und des Umfelds, erfolgt die
Wahl und Instruktion der Methodik. Erschwe-
rend ist hier neben erhöhtem Muskeltonus
oder Ataxie besonders das Symptom der
vorzeitigen oder verstärkten Ermüdung.
Beispielsweise wird die Trainingsintensität
an heißen Tagen und zu späterer Tageszeit
niedriger sein als an einem kühlen Morgen.
LITERATUR
Fimland MS, Helgerud J, Gruber M,
Leivseth G, Hoff J. Enhanced neural
drive after maximal strength training
in multiple sclerosis patients.
Eur J Appl Physiol. 2010;110:435-43.
Kiselka A, Greisberger A, Heller M.
Perception of muscular effort in
multiple sclerosis. NeuroRehabilita-
tion. 2013;32:415-423.
Kjolhede T, Vissing K, Dalgas U.
Multiple sclerosis and progressive
resistance training: a systematic re-
view. Mult Scler. 2012;18:1215-1228.
Kraemer WJ, Adams K, Cafarelli E,
et al. American College of Sports
Medicine position stand. Progression
models in resistance training for
healthy adults. Med Sci Sports
Exerc. 2002;34:364-380.
Lagally KM, Amorose AJ, Rock B.
Selection of resistance exercise
intensity using ratings of perceived
exertion from the OMNI-RES. Per-
cept Mot Skills. 2009;108:573-586.
Naclerio F, Rodríguez-Romo G, Bar-
riopedro-Moro MI, Jiménez A, Alvar
BA, Triplett NT. Control of Resistance
Training Intensity by the Omni Per-
ceived exertion Scale. J Strength
Cond Res. 2011;25:1879-1888.
Robertson RJ, Goss FL, Rutkowski J,
et al. Concurrent validation of the
OMNI perceived exertion scale for
resistance exercise. Med Sci Sports
Exerc. 2003;35:333-341.
Romberg A, Ikonen A, Ruutiainen J,
Virtanen A, Hämäläinen P. The
effects of heat stress on physical
functioning in persons with multiple
sclerosis. Neurol Sci. 2012;319:42-6.
Tallner A, Waschbisch A, Wenny I,
et al. Multiple sclerosis relapses are
not associated with exercise. Mult
Scler. 2012;18:232-5.
Tiggemann CL, Korzenowski AL,
Brentano MA, Tartaruga MP,
Alberton CL, Kruel LFM. Perceived
exertion in different strength
exercise loads in sedentary, active,
and trained adults. J Strength
Cond Res. 2010;24:2032-2041.
© Josef Mattes
1...,4,5,6,7,8,9,10,11,12,13 15,16,17,18,19,20,21,22,23,24,...36
Powered by FlippingBook