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physio

austria

inform

Juni 2015

31

ARBEITSALLTAG

Mag. Agnes Hove-Christensen, Bernhard Taxer, MSc

In der Physiotherapie sind wir dazu angehalten nach ge-

wissen Richtlinien und Standards wie der International

Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)

oder der International Classification of Diseases (ICD)

im Sinne der PatientInnensicherheit zu arbeiten bzw. uns

zum Wohle der PatientInnen daran zu orientieren. Wie

aber bleiben wir als PhysiotherapeutInnen selbst gesund

in unserer professionellen, qualitativ hochwertigen und

wissenschaftlich belegten Arbeit? Sind wir nur Teilfakto-

ren, die nach Zuweisungen, PatientInnen wie Maschinen

und nach rein biomechanischen Maßstäben bearbeiten?

Oder sind wir biologische, organische, neurologische,

vernetzt denkende, mitfühlende Personen mit Körper,

Psyche, Geist und Seele, die die Fähigkeit haben empa-

thisch und reflektiert zu handeln? Wie weit kann man

den eigenverantwortlichen Dialog und eine Beziehung zu

PatientInnen und Mitmenschen eingehen und gleichzeitig

im Stande sein, sich bewusst abzugrenzen?

Um eine adäquate Gesundheitsförderung zu bieten,

erscheint es wesentlich, dafür Sorge zu tragen, an der

eigenen Gesundheit zu arbeiten und Bedingungen zu

schaffen, die diese erhalten oder noch verbessern.

Belasungssituationen im physiotherapeutischen und

privaten Umfeld führen zu körperlichen und psychischen

Herausforderungen. Folgendes Fallbeispiel aus dem

therapeutischen Alltag soll Möglichkeiten und Fragen

aufzeigen, um ein Verständnis für Coping-Strategien

zu schaffen.

Mordfall im Arbeitsalltag

Zehn Sitzungen war Herr M. schon wegen langjähri-

gen Rückenschmerzen in Behandlung bei einem seit

fünf Jahren selbständig arbeitenden Physiotherapeu-

ten. Im Zuge der einzelnen Einheiten konnte ein sehr

gutes Verhältnis zwischen Patient und Physiothera-

peut entstehen. Das klinische Bild erschien klar, die

Prognose langwierig aber positiv und die hervortreten-

den psychosozialen Faktoren (yellow flags) bestätig-

ten zusätzlich die Hypothese einer Veränderung der

Schmerzwahrnehmung. »Empathie«, dieses teilweise

sehr salopp verwendete Schlagwort, schien in dieser

Situation jedenfalls ein Schlüssel zum »Erfolg«. Es

stellte sich Besserung ein und die Schmerzsituation

reduzierte sich soweit, dass Herr M. wieder leichte

Aktivitäten aufnehmen konnte. Die erste Serie wurde

pünktlich und zeitgerecht bezahlt. Mit der Fortsetzung

der Therapie sollte nun nach Zuweisung einer Neuro-

login eine weitere Verbesserung der gegenwärtigen

Situation erzielt werden. Zudem erbat sich auch die

Ehefrau von Herrn M. einen Termin, da sie seit einer

Hüftoperation auch immer Schmerzen hätte: »Kein

Problem, man kann die Termine auch gerne gleich

hintereinander legen.«

Trotz Vereinbarung kam dieser Termin schließlich

nicht zu Stande. Unpünktlichkeit war bisher nicht die

Art des Ehepaars. Zudem waren weder Herr M. noch

Frau M. telefonisch zu erreichen. Es könnte ja ein

Stau sein oder einfach nur verschlafen? Oder ist gar

etwas passiert?

Zwei Tage später - und immer noch ohne Antwort -

kommt es durch Zufall dazu, dass dem Physiothera-

peuten in einer Kaffeepause eine Zeitung mit reißeri-

scher Aufmachungen in die Hände fällt. Die Zeitung ist

vom Vortag. Darin ist das Bild von Frau M. abgebildet

und ein Artikel zu ihrer Ermordung durch den Ehe-

mann, Herrn M. Erdrosselt. Scheinbar im Affekt.

Der Physiotherapeut ist erschüttert. Außer einem E-

Mail mit der behandelnden Neurologin und einem kur-

zen Gespräch mit einem Freund beim Mittagessen

kommt es an diesem Tag jedoch zu keinerlei »Verar-

beitung«. »Braucht es ja schließlich nicht, da muss

man durch.« Muss man das?

Supervision –

Ein Appell

Betrachtungen aus der Praxis

anhand eines Fallbeispiels

»WO BEGINNT DIE REGEL-

MÄSSIGE REFLEXION SCHWIE-

RIGER UND BELASTENDER

SITUATIONEN BEI PHYSIO-

THERAPEUTiNNEN UND WO

DARF SIE AUFHÖREN?«