Background Image
Previous Page  25 / 40 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 25 / 40 Next Page
Page Background

physio

austria

inform

Februar 2016

25

ENTWICKLUNG

Bernhard Taxer, MSc

Mit der Gründung der ersten Ausbildungsstätte für »ärztli-

che Hilfskräfte« im Jahr 1916 im Krankenhaus Lainz legte

der österreichische Arzt Josef Kowarschik (1876-1965)

den Grundstein für die Berufsentwicklung zu heutigen

PhysiotherapeutInnen. Bereits 16 Jahre zuvor gründete

dabei sein deutsches Pendant Johann Hermann Lubinus

die erste deutsche Privatschule für »Heilgymnasten« im

Rahmen der »Kieler Lehranstalt für Heilkunst«. Er war

auch der erste Arzt im damaligen Deutschland, der die

Meinung vertrat, dass der Beruf der Heilgymnastik eine

spezielle Ausbildung erfordert. Eine Meinung, die ihm

heute wohl niemand mehr zur Diskussion stellen würde.

Während den KollegInnen, damals noch primär Töchter

aus gutem Hause, in Deutschland schon allein durch die

veraltete Berufsbezeichnung die Bürde der »Heilung«

auferlegt wurde, hielt man es in Österreich noch be-

scheidener und gab sich mit einer »Assistenz« zufrieden.

Spätestens ab dem zweiten Weltkrieg allerdings begann

der Stellenwert dieser Berufsgruppe stetig zu wachsen.

Neben der steigenden Zahl an KriegsinvalidInnen und

deren Rehabilitation kam es gleichzeitig durch die Zu-

nahme der westlichen Industrialisierung zu neuen Krank-

heitsbildern beziehungsweise zu vermehrten Verkehrs-

und Arbeitsunfällen. Die Rehabilitation geht zudem über

den rein orthopädisch/traumatologischen Bereich hinaus

und in die klinischen Felder der Neurologie und Inneren

Medizin hinein.

Große Zeit der ersten Konzepte

Die Auseinandersetzung mit Pathologien unterschiedli-

cher Art erforderten es, die bis dato für gesunde Men-

schen angewandten Turn- und Gymnastikübungen zu

adaptieren. Mit den 1950er und 60er Jahren begann das

große Zeitalter der ersten Konzepte. Maggie Knott (Pro-

priozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), das Ehepaar

Berta und Karel Bobath, Freddy Kaltenborn und James

Cyriax, um nur einige zu nennen, sorgten dafür, dass es

zu einer ersten empirischen und erfahrungsorientierten

Grundlage in der Physiotherapie kam. Zusätzlich er-

scheint bereits die erste Tendenz zu einer Spezialisierung

innerhalb des Berufsbildes der damaligen »AssistentIn-

nen für physikalische Therapie« erkennbar.

Die Ausbildung zum heutigen »Bachelor of Science« bildet

den momentanen Höhepunkt bezüglich Kompetenz in

der Grundausbildung für PhysiotherapeutInnen. Während

1916 die Ausbildung noch wenige Wochen dauerte,

konnte sie sich über einen stetigen Zuwachs an Ausbil-

dungsmonaten und schließlich auch –jahren erfreuen.

Seit 1992, mit dem Beschluss des MTD-Gesetzes, wel-

ches zum damaligen Zeitpunkt erstmals die Ausbildung

an »Akademien« regelte, dauert das Studium zur/zum

PhysiotherapeutIn inzwischen drei Jahre. Neben der fach-

lich-methodischen und der sozialkommunikativen Kom-

petenz erlangte gerade im Zuge der Bachelor-Ausbildung

die wissenschaftliche Kompetenz zusätzlichen Stellen-

wert. Basierend auf diesen drei Kompetenz-Säulen regeln

sämtliche neun Fachhochschulen in Österreich die

Grundausbildung. Die Zunahme der Wissenschaftlichkeit

in einem über Jahrzehnte primär praxis- und erfahrungs-

orientiert geprägten Berufsbild, trägt neben klar gesetz-

lich geregelter Rechte und Pflichten nicht nur nach innen

zu einem gesteigerten Selbstverständnis bei, sondern

bestärkt zunehmend auch bezüglich Außenwirkung.

Akademisierung, Praxis- und Erfahrungswissen

Durch den fortlaufenden Akademisierungsprozess und

der Möglichkeit Master- und PhD-Abschlüsse zu erwer-

ben, darf vermehrt von einer gesteigerten Qualitätssiche-

rung ausgegangen werden. Diese unterliegt jedoch nicht

allein der wissenschaftlichen Kompetenzen. Im Gegenteil,

es darf neben dem Anspruch der Evidence Based Medi-

cine nicht auf die Evidence Based Practice vergessen

werden. Diese inkludiert sämtliche klinischen Entschei-

dungsfindungen, welche sowohl PatientInnen als auch

deren personen- und umweltbezogene Faktoren betrifft.

Was über Jahre hinweg ganz automatisch im Sinne eines

physiotherapeutischen Prozesses abgelaufen ist, wurde

gerade in den letzten zehn Jahren durch die Implemen-

tierung der International Classification of Function, Dis-

ability and Health (ICF) und durch Clinical-Reasoning-

Strategien geschärft, forciert und verfeinert. Praxis- und

Erfahrungswissen, kombiniert mit einem reflektierten

evidenzbasierten Anspruch können das Berufsbild der

PhysiotherapeutInnen auch zukünftig im positiven Sinne

beeinflussen und eine adäquate PatientInnen-Versorgung

gewährleisten. Durch die Darstellung der erlernten und

ausgeführten Kompetenzen stellen PhysiotherapeutInnen

innerhalb des Gesundheitswesens auch in weiterer

Zukunft eine Schlüsselrolle dar und könnten durch die

Erweiterung der Eigenverantwortlichkeit, im Sinne eines

»Direct Access«, das österreichische Gesundheitssystem

in Bezug auf Kosten entlasten.

Ein Jahrhundert Physiotherapie in Österreich ist eine Zeitspanne,

in der sich parallel zu gesellschaftlichen, soziologischen und wissen-

schaftlichen Veränderungen auch das Berufsbild der Physiotherapeu-

tInnen mehr als nur gewandelt hat.

Anzeige

Beginn des ersten

Lehrgangs als Akademie.

1993

Das erste eigenständige Berufsgesetz

(MTD-Gesetz) tritt in Kraft. Die Berufs-

bezeichnung lautet nun »Diplomierter

Physiotherapeut/Diplomierte Physio-

therapeutin«, die Ausbildung erfolgt an

den »Akademien für Physiotherapie«

und wird von zweieinhalb auf drei Jahre

verlängert.

1992