Markus Martin
ist Physiotherapeut seit
1982, seit 1996 in eige-
ner Praxis, seit 2006
in Wien. Er hat die
Methode »BM Balance -
Moderne Prävention
und Rehabilitation für
Blase, Beckenboden
und Prostata« entwi-
ckelt. Seit 1994 hält
er verschiedene Fortbil-
dungskurse und ist
Mitglied im fachlichen
Netzwerk Uro-, Prokto-,
Gynäkologie und
Geburtshilfe von Physio
Austria.
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physio
austria
inform
Februar 2015
Themenschwerpunkt
Physiotherapie und Interdisziplinarität
Je populärer es ist, bei medizinischen Ange-
boten mit Begriffen wie »interdisziplinär«,
»Der Mensch im Mittelpunkt«, »Ganzheitlich-
keit« zu werben, desto mehr ist anzunehmen,
dass die vorherrschende Gesundheitsver-
sorgung einen ganz anderen Trend zeigt.
Die Ausdifferenzierung der medizinischen
Fachgebiete entwickelt zunehmend unüber-
schaubarere Verhältnisse. Waren vor 50 Jah-
ren z.B. OrthopädInnen für alle Erkrankungen
des Bewegungsapparates und InternistInnen
für alle Pathologien der Inneren Medizin
zuständig, wird heute danach gefragt: »Ist er
auch Spezialist für das Knie?« oder noch
spezieller: »für Knieersatz?«. Die Ausbildungs-
verordnung der österreichischen Ärztekam-
mer von 2006 ergänzt beim Facharzttitel das
Sonderfach »Innere Medizin« bereits mit
15 weiteren Additivfächern (wie Angiologie,
Endokrinologie etc.). Eine Spezialisierung,
die im Gleichschritt bei der Physiotherapie
zu beobachten ist – wenn auch in anderer
Ausformulierung.
Der Beckenboden – eine Beispieldisziplin
Der immer detailliertere Blickwinkel be-
inhaltet aber auch die Gefahr den gesamten
»Organismus Mensch« aus dem Auge zu ver-
lieren. Dabei ist doch seit Aristoteles be-
kannt: »Das Ganze ist mehr als die Summe
seiner Teile«.
Drei medizinische Fächer – Urologie, Gynäko-
logie und Proktologie – treffen sich auf einer
Körperoberfläche, die mit einer Hand zu be-
decken ist. Die Organwand des einen stützt
das Organ der anderen Disziplin. Verändert
sich in einem Kompartiment Spannung, Lage
oder Funktion, sind stets auch die anderen
Organe betroffen. Betrachtet man die Diskus-
sionen der einzelnen Disziplinen, so kann
man aber selbst auf diesem kleinen Raum
mehr ein Kopf-an-Kopf-Rennen der »Teil«-
SpezialistInnen beobachten, als ein Denken
»im aristotelischen Sinne«. Auf einzelnen
Uro-Gyn-Kongressen wie auch der Kontinenz-
gesellschaften wird zunehmend mehr ein
interdisziplinärer und interprofessioneller
Anspruch verfolgt. Gleichzeitig gibt es aber
universitär, wissenschaftlich, gesundheits-
und berufspolitisch traditionell entstandene
Uro-Prokto-Gyn –
15 Zentimeter Körperregion
brauchen Interdisziplinarität
Drei medizinische Fächer – Urologie, Proktologie und Gynäkologie – treffen
sich auf einer Körperoberfläche, die mit einer Hand zu bedecken ist.
Hier ist Zusammenarbeit gefragt. Ein Kommentar aus der Praxis.
Strukturen zusammen mit ökonomisch ge-
leiteten Forschungsinteressen, die ihren Tribut
fordern und es erschweren, dem gesetzten
Anspruch gerecht zu werden. So unterstützens-
wert der Versuch, real zeigt sich bislang mehr
multidisziplinäre Zusammenarbeit denn ge-
meinsame Konzeptionen, die interdisziplinär
entstehen.
Wird interdisziplinär auch als inter-
professionell verstanden?
Die drei ärztlichen »Beckenbodendisziplinen«
haben große Probleme zur gemeinsamen Sicht-
weise zu finden. Was machen die verschiede-
nen Berufe des »Beckenbodens« miteinander?
BEISPIEL 1
PhysiotherapeutInnen arbeiten heutzutage
mit Methoden, die ÄrztInnen – Gynäkologie,
Urologie oder Chirurgie (Proktologie) – in ihrer
Ausbildung nicht erlernt haben. Sie können
daher auch nicht ein- oder abschätzen, ob
PhysiotherapeutInnen in dem konkreten Fall
helfen können. Auf welcher Grundlage soll
er/sie empfehlen/verordnen können?
Auf Leitlinien-Grundlage?
Wäre dies der Fall: Wieso kommt es zu so
wenigen Verordnungen? Die Physiotherapie
bei Inkontinenz und Senkungen ist eine 1A-
Empfehlung aller bedeutenden internationalen
Leitlinien! Im Verhältnis zum statistisch
belegbaren Bedarf ist die Anzahl ärztlicher
Verordnungen heute noch weit davon entfernt.
Interdisziplinarität gibt es da bislang nicht
wirklich. Und die Leitlinien unabhängige, auf
individueller Evidenz initiierte Verordnung?
Auch sie hat zur Zeit noch mehr mit der per-
sönlichen Einstellung der ÄrztInnen zu tun, als
dass sie auf Grundlage einer breit verankerten
Erkenntnis beruht, dass Physiotherapie einen
wesentlichen Beitrag zur Gesundheit im
kleinen Becken beiträgt.
Wie wäre das zu verändern? Sollen alle Gynä-
kologInnen in ihrer Ausbildung Untersuchungen
der Hüftmobilität lernen oder jeder Proktologe
verschiedene Atemvarianten erkennen lernen?
Wäre es nicht effektiver, er/sie würde im
Regelfall eine entsprechende physiothera-
peutische Fachkraft mit einbeziehen?
Wie interdisziplinär geht es die Physiotherapie
selbst an?
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